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Gedanken zur Fehlerkultur

Angaben zur Autorin

Kennst du das Gefühl?

Du sitzt vor einer Mathe-Aufgabe und bist recht zuversichtlich, dass du sie lösen kannst. Nach dem zweiten Durchlesen stellt sich ein leichtes Nervositätsgefühl ein, es kribbelt in der oberen Bauchhälfte.
Du schreibst die relevanten Angaben der Aufgabe auf dein Blatt. Du beginnst erneut zu lesen – nein, ganz klar ist dir das weitere Vorgehen nicht.
Du bräuchtest einen Tipp, nur einen kleinen.
Du könntest in den Unterlagen zurückblättern.
Vielleicht fehlt dir eine Formel aus der Formelsammlung?
... - du entscheidest dich dafür, die Aufgabe zu googeln. Du liest sie dir durch und denkst:
»Ja doch, wenn ich das so sehe, ist es eigentlich logisch, aber von selber wäre ich nie darauf gekommen. Dafür werde ich es nächstes Mal können.«
Beim nächsten Mal beginnt der geschilderte Ablauf wieder von vorn.

Ich denke, es handelt sich um eine bei den meisten Schülerinnen und Schülern recht beliebte Lösungsstrategie. Zwei Dinge sind dabei recht bemerkenswert.

Das unliebsame Gefühl in der Bauchgegend beim Lösen von Mathe-Aufgaben

Zeitgleich mit dem unruhigen Kribbeln im Bauch schaltet sich eine leise Stimme im Kopf dazwischen, die mit eiserner Entschlossenheit haucht: »Das kannst du nicht
Warum nicht?
Vielleicht denkst du, Dir fehlt »etwas«, irgend etwas Entscheidendes, im Vergleich zu Anderen.
So ganz klar ist es nicht, worum es sich bei diesem »Etwas«, das da fehlt, handelt; aber egal was »es« ist, »es« fehlt dir – ganz im Gegensatz zum Rest der Welt.
Na gut – selbst wenn Dir etwas fehlen sollte, dann hast du halt länger, um eine Aufgabe zu begreifen als der Hirsch vom Dienst. So what?
Hast du den Anspruch an dich selber, alles zu können, nachdem du es einmal gesehen und gehört hast, womöglich noch vorgetragen von einem zweitklassigen Lehrer?
Hast du das Gefühl, du bist ein Mathegenie? Wenn nicht, wieso verurteilst du dich dafür, dass du eine Aufgabe nicht nach 10 Sekunden Bearbeitungszeit lösen kannst?
Manche brauchen halt manchmal länger. Aber wieso sollte einem das davon abhalten, es weiter zu versuchen? Gerade darin könnte man zum Beispiel eine persönliche Herausforderung sehen, wenn einem das Wesen der Mathematik nicht bis ins Mark zu faszinieren vermag: Sie als Gelegenheit betrachten, um sich an einer Sache die Zähne auszubeissen, sich trotz wiederholter Misserfolge nicht unterkriegen zu lassen, mit einer Zermürbungstaktik in ihre Reihen einbrechen, Geduld mit sich selber üben und die eigene Frustrationstoleranz quasi bis zum Grenzwert konvergieren lassen.

Die weisse Fahne hissen bevor man angefangen hat

Nehmen wir an, Leanders übliches Lösungsschema entspricht dem oben geschilderten. Dann ist das Erstaunliche, dass er an keiner Stelle ernsthaft den Versuch unternommen hat, die Aufgabe zu lösen. Er hat die weisse Fahne schon gehisst, bevor er sich ein Bild über die wahre Stärke seines Gegners verschafft hat – ein viel zu leichter Sieg für die Mathematik.
Was wäre, er würde sich nicht davor scheuen, falsche Anläufe zu nehmen, Fehler zu machen? Vielleicht findet er die richtige Lösung nicht auf Anhieb, aber immerhin hat er sich auf eine Auseinandersetzung eingelassen. Selbst wenn er scheitert und letzten Endes die Lösung konsultieren muss, hat er durch das eigene Versuchen und Probieren immer noch viel mehr gelernt, als wenn er sich von allwissenden Internet-Foren hätte berieseln lassen.
Eine förderliche Fehlerkultur zu kultivieren, heisst also so viel wie: nicht erwarten, von Beginn weg alles zu können und nicht davor zurückschrecken, Fehler zu machen. Fehler und falsche Anfänge gehören zum Lernen wie das Amen zum Gebetsende – man kann sich diesen Satz ruhig laut vorlesen! Die Augenbrauen fragend hochziehen, sich in eine Sackgasse verrennen, scheitern und immer wieder neu anfangen sind in elementarer Weise Bestandteil jedes Lernprozesses. Diese Stationen auf dem Weg zum Verstehen ausbremsen und unterbinden zu wollen, ist nicht nur unrealistisch, sondern kontraproduktiv.

Blickwinkel wechseln

Mehr Sinn macht eine Perspektive, die Fehler als Gelegenheit für neues und vertieftes Lernen begreift. Dies relativiert nicht nur die eigene, zeitweilige Begriffsstutzigkeit, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, einen grosszügigeren Umgang mit sich selber und den eigenen Unzulänglichkeiten zu pflegen
Man ist nun mal keine perfekt funktionierende Maschine – aber bei genauem Hinsehen liegt gerade darin ein immensen Potential. Unsere Fehler zeigen uns zuverlässig und in aller Ehrlichkeit diejenigen Stellen, über die wir grossflächig hinweggesehen haben in der Annahme, wir wüssten schon »wie’s läuft«. Weil sie uns vor Augen führen, wo wir uns vertiefen müssen, wenn wir eine Sache genauer verstehen wollen, ermöglichen sie uns, ein Gebiet tiefgründiger zu begreifen als wir es für möglich gehalten haben.
In diesem Sinne besteht der mit Abstand grösste Fehler darin, sich von der Aussicht, Fehler zu machen so sehr entmutigen zu lassen, dass man darauf verzichtet, überhaupt einen Anfang zu wagen. Dadurch verschliesst man sich von vornherein der Möglichkeit, sich ein tiefgreifenderes Verständnis einer Sache zu erarbeiten - und das ist tragischer als jeder vorstellbare Fehler!

Autorin dieser Serie über die Fehlerkultur ist Miriam Vögele. Zum nächsten Artikel: Fehler machen uns zu dem was wir sind